Fachartikel · 19. Januar 2022

Ein Auftakt ohne den DLD – und warum wir alle gerade mit mehreren Realitäten jonglieren müssen.

In diesen Tagen hätte ja die DLD Konferenz stattgefunden. Für Irmgard Hesse von Zeichen & Wunder war das im Januar immer der der erste wichtige Termin im neuen Jahr. Wie sie den Auftakt ohne diese inspirierende Quelle empfindet und warum sie sich von der Vorstellung löst, dass wir uns in einer einzigen, großen Ausnahme befinden. Ein Gastbeitrag.

Das Jahr ist noch frisch, unbenutzt, rein. Wie ein tiefes Luftholen, bevor es losgeht. Bevor der Takt der Termine, Projekte und Pitches wieder zu schlagen beginnt. Dabei hat ja jede und jeder neben den gesellschaftlich übergreifend geltenden auch ganz persönliche Ankerpunkte im Jahr, nach denen Zeitläufe geplant, gelebt und gemessen werden.

Einer meiner Ankerpunkte war die letzten Jahre die Digitalkonferenz DLD. Unter dem Titel „Digital Life Design“ versammelten sich jeden Januar in München so aufregende Redner:innen wie beispielsweise die philippinische Journalistin Maria Ressa: DLD-Speakerin seit Jahren, ist sie 2021 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Und genau das ist das Schöne an der DLD, dass die Konferenzteilnehmer:innen in den letzten Jahren häufig das Gefühl hatten, wie durch ein Schlüsselloch – und vor dem Rest der Welt – ein bisschen in die Zukunft blicken zu können, gesellschaftlich, technologisch und kreativ.

 

Reality Rules – und wie

Das diesjährige Motto der DLD ist ironischerweise „Reality Rules!?“: Und so hat die Realität tatsächlich ihr Machtwort gesprochen, die Live-Veranstaltung musste verschoben werden, auf ein digitales Format wie letztes Jahr wollte man nicht ausweichen. Würde die DLD stattfinden gäbe es bestimmt kluge Referent:innen, die sich mit den verschiedenen Realitäten beschäftigt, die uns heute häufig zeitgleich umgeben.

Solange wir warten – auf die hoffentlich nur zeitlich geschobene Konferenz – können wir uns fragen: Was ist denn eigentlich im Moment unsere „Reality“? Vielleicht ist es ja so, dass es „die“ Realität nicht mehr gibt und auch künftig nicht mehr geben wird. Sondern eine schwindelerregende große Anzahl von ganz unterschiedlichen Wirklichkeiten, die auch noch munter ihre Besitzer:innen wechseln: Kaum haben wir unsere Arbeitsweise erfolgreich auf Homeoffice umgestellt und wollen aufatmen, merken wir, dass es nicht so sein wird, dass nach und nach alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurück in die Agenturen kommen.

 

Immer wieder neu: unsere Art Zusammenzuleben und zu arbeiten

Kurz haben wir das Uns-wieder-Treffen genossen, da kam schon die nächste Welle angerauscht und weitere Transformationen stehen an, zur hybriden Arbeitsweise. Ein Teil des Teams ist vor Ort, andere arbeiten lieber – oder auch durch Quarantäne oder Kitaschließungen gezwungen – von zu Hause aus. Und plötzlich sind die schönen großen, offenen Agenturräume nur noch eines: Unpraktisch! Zu wenig Wände, zu wenig abgeschlossene Bereiche zum Austausch und Zusammenarbeiten vor Ort und gleichzeitig mit per Teams zugeschalteten Kolleg*innen oder Auftraggebern.

Da braucht es manchmal schnelle, provisorische Lösungen. Ganz pragmatisch haben wir uns einfach ein Gewächshaus als neuen Minikonfi auf die Fläche gestellt und planen ein paar schwere Vorhänge zur akustischen Trennung, weil: Umbau – nein danke, wer weiß denn schon, was in einem halben Jahr sein wird? Das ist anspruchsvoll und kostet Geld. Einerseits haben wir alle, besonders nach diesen Monaten, ein großes Bedürfnis nach echter Nähe, eine Sehnsucht nach persönlichem Austausch und Spontanität jenseits getakteter digitaler Meetings. Andererseits ist der Schutz der Gesundheit jedes Einzelnen die oberste Priorität – dem allen als Arbeitgeberin gerecht zu werde, so dass der Spaß an unserer wunderbaren Arbeit nicht auf der Strecke bleibt, das ist durchaus fordernd.

 

Steinzeit neben Zukunftsmusik

Generell fühlt sich die Welt aktuell so an, Steinzeit neben Zukunftsmusik: Die Welt entwickelt in absolutem Rekordtempo einen Impfstoff, fantastisch! Parallel dazu führen aber deutsche Gesundheitsbehörden mit Fax und Telefonhörer einen manchmal aussichtslos wirkenden Kampf bei der Kontaktverfolgung, der uns alle deprimiert. Digitalisierung? Fehlanzeige.

Und in unserer Branche? Das sagt sich ja immer so leicht, die Krise als Chance begreifen. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass es schlicht eine Frage des Energiehaushaltes ist, ob wir in der Lage sind, unter den aktuellen Anstrengungen auch noch spielerisch oder gar virtuos mit möglichen Chancen umzugehen, beziehungsweise, sie überhaupt wahrzunehmen. Auch unsere Auftraggeber:innen, potenzielle gleichermaßen wie langjährige, sind ebenso mit unterschiedlichsten Realitäten konfrontiert: die Digitalisierung will vorangetrieben werden, das hat jeder verstanden, das ist die eine Seite. Knappe Budgets und die unternehmerische Pflicht, sorgfältig zu haushalten angesichts von Ladenschließungen und schwer planbarer Zeiten aber eine parallele, ebenfalls mächtige Wirklichkeit. Das ist anspruchsvoll, Tempo machen zu müssen und mangels Kristallkugel sich nicht zu vergaloppieren.

Und hier kommt wieder unsere Digitalkonferenz ins Spiel: Sie ist eine unnachahmliche Gelegenheit, geistig ins Jonglieren zu kommen, sie schubst uns in neue Gedankengänge und ermutigt uns, in der immerwährende Veränderung vor allem etwas Positives, Konstruktives zu sehen. Die DLD fehlt!

 

Schluss mit dem Ausnahmezustand

Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, mich in ’22 bewusst von der Vorstellung der letzten, langen Monate zu lösen, dass wir uns in einer einzigen, großen „Ausnahme“ befinden. Mit der Folge, dass viele unserer Mitarbeiter:innen ihr Leben umkrempeln, so dass mehr Leute neu ongebordet werden müssen, als wir das in den letzten Jahren je gewohnt waren. Mit häufig langen Wegen zur Beauftragung, trotz sehr vieler spannender Anfragen von Neukunden. Immer wieder habe ich mich dabei ertappt, darauf zu warten, dass alles wieder gut ist und der Ausnahmezustand beendet. Dieses Denkmodell ist als Dauerzustand aber lähmend. Und wir haben ja tolle neue Leute für unser Team gefunden und sehr schöne, ganz frische Kundenbeziehungen aufgebaut. Lieber lasse ich mich also im neuen Jahr darauf ein, mit den verschiedenen Realitäten zu jonglieren. Denn: Nur Bewegung hält alle Bälle in der Luft!

 

Einladung zum Träumen

Insofern passt die DLD bestens in die Zeit mit ihrem, wie sie schreibt, Fokus auf der „Transformation von Märkten, Medien, Kultur und Gesellschaft, die durch das Internet und neue digitale Geschäftsmodelle entsteht“. Dabei werden stets große Themen verhandelt wie Meinungsfreiheit oder der Wandel der Mobilität neben neuen technologischen Entwicklungen, um die Menschheit zu ernähren. Aber eben immer durch die individuelle Expertise der Referent*innen mit einem konkreten Handlungsfeld verkoppelt. Das gibt den oft visionären Themen Bodenhaftung.

 

Auftakt! Gern auch mitten im Jahr.

Gerade am Jahresanfang war es in den letzten Jahren wunderbar, sich zwei Tage voller Inspiration und geistiger Anregung zu holen. Aber auch später im Jahr werde ich nach dem echten Konferenzerlebnis dürsten: Lebt die DLD doch neben den hochkarätigen Vorträgen gerade auch vom Austausch auf den Gängen, den Coffeebreak-Gesprächen und der echten Präsenz vieler interessanter und inspirierender Menschen. In diesem Sinne: Liebe Reality, ich hoffe, Du ermöglichst uns einen verspäteten Auftakt.

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