Warum jetzt Sorgfalt und Mut zur Entscheidung zählen

Die Nerven liegen blank: Inflation, Fachkräftemangel, Probleme in den Lieferketten, Krieg in Europa und im Nahen Osten und – ja, den Klimawandel gibt es auch noch. Irmgard Hesse, Chefin von Zeichen & Wunder hat sich über die neue Rolle von Strategie- und Kreativagenturen in Zeiten der Multikrise Gedanken gemacht.

Insight | 09. Januar 2024

Die aktuell fordernde Gemengelage ist wenig geeignet, Menschen für das Thema Transformation und Wandel zu begeistert. Denn: Wer bereits auf wackeligem Grund steht, möchte in der Regel ungern weiter Boden unter den Füßen verlieren. Dabei wissen wir alle, dass an gleich mehreren, sehr umfassenden Veränderungen kein Weg vorbei geht. Privatpersonen und Unternehmen sind aktuell einer Multikrise ausgesetzt. Auch der seit Jahrzehnten beklagte Bürokratieabbau verläuft schleppend und die Digitalisierung in Deutschland müsste sehr viel schneller gehen, wie wir auf dem Digitalgipfel in Jena Ende November wieder erfahren mussten. Wie sieht nun die Reaktion vieler Unternehmen darauf aus? Hier drei Paradoxe:

Paradoxon 1: Performance vor Strategie

Der Zeit- und Erfolgsdruck sitzt Unternehmen im Nacken. Die Krisenjahre seit Corona mit jährlich wechselnden Problem-Highlights führen zu einem Schrei nach Performance, Umsatz und schnellen Resultaten. Loslegen, Wirkung erzielen, und das bitte sofort. Den Agenturen geht es häufig genauso: Reserven sind abgeschmolzen, das "Fett" ist weg, Tempo ist geboten. Trotzdem sind grundsätzliche Umbrüche wie beispielsweise ein Generationswechsel im Unternehmen, die digitale Transformation oder der Wegfall bis vor kurzem bewährter Vertriebswege nicht mal eben im Rahmen eines Pitchs zu lösen, sondern nur durch intensive und gemeinsame Arbeit am Eingemachten.

Wir alle haben "Form follows Function" verinnerlicht, man könnte aber auch formulieren: "Action follows Reflection". In der umgekehrten Reihenfolge ist die Gefahr eines rein aktionistischen, nicht richtig durchdachten Maßnahmenbündels hoch. Hier liegt ein hohes Risiko: Zu handeln, aber ohne die vorherige Klärung strategischer Fragen Zeit und Ressourcen zu verbrennen. Gerade der berechtigte Wunsch nach effizientem Handeln erfordert gründliche strategische Arbeit und sorgfältige Planung. Nur so können die wertvollen Investitionen in die Markenentwicklung ihre bestmögliche Wirkung entfalten.

Paradoxon 2: Bürokratie mit Bürokratie bekämpfen

Wir alle wünschen uns weniger Bürokratie und eine schnellere, agilere Zusammenarbeit, mehr Effizienz und beherzte, mutige Entscheidungen. Aber aufgrund der vorherrschenden Unsicherheit und dem absolut nachvollziehbaren Bestreben, bloß keinen Fehler zu machen, erzeugen Unternehmen häufig selbst jede Menge Bürokratie und sind so zu wahren Meistern viele Monate währender Agentur-Auswahlprozesse geworden.

Selbst kleinere Projekte werden ohne bürokratische, arbeitsintensive Vorstufen und aktenfüllende Begleitpapiere kaum noch vergeben. Der Weg der Agentur zum Auftrag ist entsprechend steinig: Anruf Pitchberatung, erstes Screening, Chemistry Meeting, Einladung zur Ausschreibung, Bearbeitung einer "kleinen Aufgabe", Vorschlag zur Vorgehensweise, Erstellung Budgetierungsplan für das nächste Jahr, Pitch-Phase 1, Erstellung Shortlist, Pitch-Phase 2, Verhandlungsrunde 1, Verhandlungsrunde 2 – Auftrag? Wie war das nochmal, Effizienz, Bürokratieabbau und schnelle Prozesse? Fehlanzeige.

„Umbruchzeiten sind Hoch-Zeiten für Kreative und Strategen, denn sie können methodische Sicherheit beim Sprung ins Ungewisse bieten.”

Irmgard Hesse
geschäftsführende Gesellschafterin bei Zeichen & Wunder

Paradoxon 3: Briefing ohne Briefing

In Zeiten, die möglicherweise weniger verwirrend und kompliziert waren, wurde das Briefing vom Auftraggebenden für eine möglichst zielgerichtete Arbeit der Agentur aufgesetzt. Es enthielt im Idealfall die wichtigsten strategische Prämissen, fach- und branchenspezifische Hinweise, einen ersten Zeitplan, wichtige Meilensteine und die Größenordnung eines Budgets sowie die übergreifende Erwartungshaltung des Auftraggebers.

Dieser Prozess hat sich inzwischen umgekehrt. Ein mit allen Verantwortlichen abgestimmtes Briefing zu verfassen und die entscheidenden Parameter für das zu startende Projekt zu definieren, ist nun meist die erste, komplexe Vorab-Aufgabe der Agentur. Dabei wäre dies ein wichtiger und intensiver Teil des gemeinsamen Arbeitsprozesses. Denn es müssen essenzielle Fragen geklärt werden. Deshalb müsste es selbstverständlich sein, dass dieser wichtige Teil des Projektes auch angemessen vergütet wird. Und damit meine ich nicht ein gerade mal vierstelliges Pitchhonorar. Auftraggeber sollten sich bewusst machen, dass ein Pitch immer eine Art Sonderkür darstellt und noch wenig mit einer substanziellen Zusammenarbeit zu tun hat. Denn genau Ihr Wissen, liebe Kundin und lieber Kunde, spielt hier die entscheidende Rolle. Wenn das nicht berücksichtigt wird, fängt der Prozess nach der Pitch-Entscheidung häufig von vorne an. So viel zum Thema Zeitersparnis.

Agenturen, macht eure Hausaufgaben!

Neben dem Aufwand, der in hunderten von Agenturen und auf Kundenseite anfällt, schmerzen die vielen tausend Stunden wertvoller Strategie- und Kreativarbeit, die ungenutzt in die Tonne wandern. Es geht hier sicher nicht darum, eine selbstmitleidige Klage anzustimmen. Im Gegenteil, Jammern gilt nicht! Ich denke, wir Agenturen haben hier ein ganz grundlegendes und in diesen Zeiten besonders wichtiges Kundenbedürfnis übersehen: Den Wunsch ihrer Kund:innen nach größtmöglicher Transparenz und Sicherheit. Das nötige Vertrauens-Gefühl scheint sich nicht so ohne weiteres einzustellen, so dass Unternehmen, die auf Agentursuche sind, hier u.a. mit immer weiteren Absicherungsschritten vor der eigentlichen Zusammenarbeit reagieren.

Denn, machen wir uns nichts vor: Für Neukunden ist die Kreativpartnerwahl ein als riskant empfundener Sprung ins kalte Wasser, häufig geprägt von schlechten Erfahrungen mit früheren Partnern. Und nun sollen sie nach dem ersten "Speeddating" den gemeinsamen Bund für die nächsten Monate oder gar Jahre eingehen?

Eine Brücke: Das Projekt vor dem Projekt

Die Frage ist also, was können Agenturen dazu beitragen, um die Entscheidung für einen Kreativpartner zu befördern? Das Knäuel der gleichermaßen komplexen Aufgaben im Vorfeld ist tatsächlich schwer zu knacken. Die gesellschaftliche Multikrise führt zu Multiproblemstellungen in den Unternehmen - mit gleich mehreren drängenden, komplizierten Themata, die alle voneinander abhängen und die es parallel zu lösen gilt.

Ein Lösungsansatz könnte darin liegen, dass beide Seiten diesen Teil der Aufgabe ernst nehmen und systematisch im Projektflow verorten. Und: so eine anspruchsvolle Arbeit muss angemessen honoriert werden. Letztlich macht sich das für beide Seiten bezahlt: Der Auftraggeber erhält jede Menge Input und Expertise sowie die Gewissheit, sein Projekt mit einem Sparringspartner sinnvoll und professionell aufzusetzen. Das Risiko hält sich in Grenzen und lässt sich mit einer möglichen Folgebeauftragung verrechnen. So bekommen beide Seiten Sicherheit und Boden unter den Füßen.

Wir Agenturen müssen uns also mehr bemühen, Unternehmen eine Brücke zu bauen und zeigen, dass kreatives Denken eine Schlüsseldisziplin für Veränderung ist. Umbruchzeiten sind Hoch-Zeiten für Kreative und Strategen, denn sie können methodische Sicherheit beim Sprung ins Ungewisse bieten. Wenn das gelingt, bin ich optimistisch, dass in 2024 der eine oder andere Knoten platzt.